Sternenpflücker
Meine Adventsgeschichte spielt in Kalifornien und heißt „Sternenpflücker“. Christoph Ransmayr erzählt sie in seinem „Atlas eines ängstlichen Mannes“ (Frankfurt/M 2012). Sie beginnt bei Nacht auf dem Parkplatz eines Straßencafés bei San Diego mit einem gestürzten Kellner, der zwischen geparkten Autos und Gästen auf mitgebrachten Klappstühlen ein kreisrundes Messingtablett unter einem Cabrio hervorzieht und anfängt die von Kaffee, Wein, Fruchtsäften und Wasser tropfenden Glas- und Flaschenscherben einzusammeln. Die vielen Gäste an diesem Abend sind kein Zufall. Einige haben ein Teleskop mitgebracht. Am Nachthimmel ist noch einmal der Komet Hale-Bopp mit seinem 50 Millionen km langen Doppelschweif zu sehen, bevor er im Weltraum verschwindet. Im Jahr 4535 wird er wieder zu sehen sein. Heute, beim Abschied, sorgt eine Mondfinsternis dafür, dass der Komet am Nachthimmel noch heller strahlt. Deshalb die vielen Menschen, die vor dem auf einem Hügel gelegenen Straßencafé den Nachthimmel beobachten. Sie rufen erwartungsgemäß „Der Mond!“ als die Mondfinsternis beginnt und sie sehen schweigend zu, wie der hellste Komet des Jahrtausends am verfinsterten Mond rasend schnell vorbeizieht. Es ist still. Bis es auf einmal laut klirrt. Der Kellner muss mit seinem schwer beladenen Tablett im Dunkeln über ein Kabel gestolpert sein, das eine Autobatterie mit einem Teleskop verbindet. Jetzt liegt das Tablett unter dem Auto und der Kellner kniet mit kaputter Hose und aufgeschürften Knien daneben und sammelt auf dem öligen Parkplatz die Scherben ein. Als gebe es keinen Hale-Bopp und keinen verfinsterten Mond. Nur Scherben. Und während draußen im All das Himmelsschauspiel seinen Lauf nimmt und der Komet sich langsam entfernt, beginnt auf dem ölig fleckigen Parkplatz ein anderes Schauspiel, das der Geschichte ihren Namen gibt. Immer mehr Zuschauer wenden sich von dem einmaligen Himmelsereignis ab, kehren dem Himmel den Rücken und kümmern sich um den gestürzten Kellner. Sie wollen ihm aufhelfen. Und als er nicht will, bücken sie sich selbst und helfen ihm, die Scherben einzusammeln, die auf dem Parkplatz verstreut liegen. Die blinken, sagt Ransmayr, selbst im verfinsterten Mondschein. Deshalb sieht es aus, als würden die über den Boden gebeugten Gäste Sterne von der Erde pflücken.
Sterne pflücken. Nicht am gestirnten Himmel über mir. Sondern unten. Auf der Erde. Indem wir einander helfen. Und uns aufeinander einlassen. Indem wir da sind, wenn jemand unsere Hilfe braucht. Oder uns selber helfen lassen. Weil uns etwas entglitten ist. Und weil es gut tut, wenn andere sich mit uns auf den Boden begeben und uns helfen, unsere Scherben wieder einzusammeln. Und zugleich spiegelt sich in unseren Scherben das Sternenlicht. Es könnte ebenso gut das Licht sein, das im Advent von Weihnachten her in unsere Welt und in unser Leben scheint und dort etwas zum Glänzen bringt. Auch dann, wenn kein Komet in der Nähe ist, der gerade an einem verfinsterten Mond vorbeizieht. Für mich ist die Geschichte „Sternenpflücker“ eine Adventsgeschichte. Eine besonders schöne dazu.
Michael Werner, Dekan des evang. Kirchenbezirks Ludwigsburg
Foto: Stefan Morgenstern
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