Vergesslicher Engel
Am Wochenende ist mir ein Engel „zugeflogen“ – eigentlich ist er aus meiner Schreibtischschublade „herausgeklettert“. Es ist der „vergessliche Engel“, ein Bild von Paul Klee. Dass ich von diesem Engel eine Postkarte habe, hatte ich ein wenig vergessen.
Der „vergessliche Engel“ ist einer von mehr als 80 Engeln, die der Maler Paul Klee gemalt, gezeichnet und skizziert hat. Die meisten Engel hat er 1939, ein Jahr vor seinem Tod gemalt. Engel in immer neuen Varianten, bunte Gemälde oder einfache Strichfiguren. Seine Engel sind nicht strahlend-himmlisch-perfekt, sondern eher unfertig, unvollkommen, manchmal ziemlich menschliche Geschöpfe. Sie lachen und weinen, schauen fragend oder betrübt drein. Bei manchen sitzt der Kopf recht locker oder ihnen scheint alles über den Kopf zu wachsen. Mal haben sie winzige, mal riesengroße Flügel, mal sind sie anmutig, mal komisch, manchmal ängstlich. Sie haben kleine Schwächen und Schönheitsfehler, und immer ein bisschen „in der Schwebe“.
Es gibt den „Engel voller Hoffnung“ und den „Engel im Werden“. Und das gilt eigentlich für alle Engel von Paul Klee: Sie sind nicht fertig, sondern lebendig, wunderbar-wandelbar. Ich liebe diese Engel, weil sie bunt oder strichförmig, mit ihren Rundungen oder Ecken und Kanten wie wir Menschen sind. In diesen Engeln finde ich etwas von mir oder das, was wir noch werden könnten – die unendlichen Möglichkeiten des Lebens. Und das alles unter Gottes weitem Himmel und seiner großen Liebe. Wie die Engel (Paul Klees) so muss auch ich nicht perfekt sein, sondern kann noch werden, immer wieder neu. Mal ist das schön, mal anstrengend, mal leicht, mal schwer – und das darf es sein, auch jetzt in der Adventszeit. Dieses Jahr nehme ich Paul Klees vielseitige Engel mit, als Ermutigung und Tröstung, als Vorbild für Lebensfreude und Gelassenheit, wenn mal etwas gelingt oder auch danebengeht, auch in den Adventstagen.
Und dass gerade der „vergessliche Engel“ zu mir „herausgeklettert“ ist, nehme ich als besondere Adventsbotschaft mit. Denn wenn schon der Engel, dann darf auch ich mal vergesslich sein. Ist nicht so schlimm, denn auch wenn der Engel oder ich etwas vergessen, der eine da oben und zugleich uns ganz nah, vergisst keinen, nicht mich, nicht dich und nicht seine vergesslichen Engel.
Stephan Seiler-Thies, Evang. Hochschulpfarrer, Ludwigsburg
Foto: Stefan Morgenstern
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